leonardo@humtec.rwth-aachen.de
Zeit
Dienstag 16:00 – 18:00
Ort
E3, neues Informatikgebäude
Wie sind Sprachen aufgebaut? Wie „funktionieren“ sie? Was ermöglichen sie? Wir können in diesem Leonardo-Seminar nur erste Schritte in die Beantwortung dieser grundlegenden Fragen unternehmen, doch reicht dies aus, um wichtige Einsichten in das zentrale Medium unserer Kommunikation und Erkenntnisfindung zu gewinnen.
Ziel ist es, die Mechanismen der Sprachentstehung und Sprachnutzung genauer zu verstehen.
Das Seminar gliedert sich in einen Einführungstermin (Vorlesung mit Präsentation der Themen, in der ersten Vorlesungswoche) und zwei Teile: „Natürliche Sprachen“ (wie sie gesprochen und geschrieben werden) und „Formale Sprachen“ (wie sie in Computern genutzt werden). Jeder Teil besteht aus drei zweistündigen Seminarterminen mit je drei Themen. Teil I ist vorläufig für die Vorlesungswochen 4, 6, 8 geplant, Teil 2 für die Vorlesungswochen 10, 12, 14.
Das Seminar ist interdisziplinär; der erste Teil wird von C. Stetter betreut (Linguistik, Philosophische Fakultät), der zweite von W. Thomas (Informatik, Fakultät für Mathematik, Informatik und Naturwissenschaften).
„Natürlich“ ist die sogenannte natürliche Sprache insoweit, als jedes gesunde Kind die Sprache oder auch die Sprachen seiner sozialen Umgebung bis zum Alter von vier bis fünf Jahren erlernen und ebenso sicher beherrschen und praktizieren wird wie den aufrechten Gang. Dies in den drei „Sprachregistern“ der Phonologie, d.h. der lautlichen Seite der natürlichen Sprache, der Grammatik (Wortbildung und Syntax) und der Semantik, der Bedeutung von Wörtern und Phrasen.
Diese seine Muttersprache wird spätestens ab dem dritten Lebensjahr das primäre Medium der Kommunikation mit seiner sozialen Umgebung sein. Und mit wachsendem Wortschatz wird sie auch zum wichtigsten Medium seiner Welterschließung. Diese beiden Funktionen der Kommunikation und der Welterschließung, d.h. der Erkenntnis, behält die Muttersprache für jeden Menschen lebenslang.
Nicht natürlich im skizzierten Sinne ist dagegen die Schriftsprache. Während die orale Sprache so alt ist wie der Mensch selbst – Herders Preisschrift über den Ursprung der Sprache (1772) zählt daher zu Recht zu den „Gründungsurkunden“ der Anthropologie –, ist von Schrift im engeren Sinne, d.h. der graphischen Darstellung bestimmter Wörter in bestimmter Reihenfolge, frühestens ab dem 4. Jahrtausend v. Chr. zu sprechen. Ihre Ausbildung setzt nicht nur voll entwickelte orale Sprachen voraus, sondern auch eine differenzierte Gesellschaft, in der das Medium Schrift zur notwendigen Bedingung der Funktionen von Herrschaftsausübung, religiöser Überlieferung, Justiz und Wirtschaft wird.
Teil I des Seminars führt in die linguistische Seite dieser Problemkonstellation anhand der „klassischen“ Disziplin der modernen Sprachwissenschaft ein, der Phonologie:
Thema (1) behandelt den Ansatz der strukturalen Phonologie, in der – im Anschluss an Ferdinand de Saussures „Cours de linguistique générale“, dem Basistext der Linguistik des 20. Jhds. – die Grundunterscheidung zwischen dem System bzw. den Teilsystemen einer Sprache und deren Gebrauch in der alltäglichen Kommunikation getroffen wurde. Diese Systeme (Lautbildung, Wortbildung, Phrasenbildung) sind, streng genommen, theoretische Konstruktionen. Aber ohne solche Modelle wäre Sprachwissenschaft und damit ein tiefergehendes Verständnis dessen unmöglich, was unsere ‚natürliche‘ Sprache wesentlich ausmacht. Das klassische Modell der Phonologie vermittelt einen Einstieg in diese Denkweise.
Themen:
1.1 Herders Theorie vom ‘menschlichen‘ Ursprung der (oralen) Sprache
1.2 Das „Differenz-Modell“ der strukturalen Phonologie
1.3 Das Lautsystem des Standard-Deutschen nach Duden
Thema (2) baut dies aus anhand der beiden Extreme von Alphabetschrift und chinesischer Schrift, den Hanzì. Erstere ist die entwicklungsgeschichtlich weitaus ältere und damit auch abstraktere Lösung des Verschriftungsproblems. In ihr sind alle Spuren einer bildlichen Darstellung von Wortbedeutungen getilgt. Dagegen ist im Zeichenbestand der Hanzì die Entwicklung der Schrift aus der bildlichen Darstellung von Wortbedeutungen in den sogenannten „ursprünglichen Bildern“ zumindest teilweise noch konserviert. Wichtig für „westliche“ Schriftbenutzer ist dieses Thema insofern, als es zeigt, wie groß die Gefahr ist, sich am Modell einer partiellen Lösung des Verschriftungsproblems ein unzutreffendes Bild von der Funktionsweise der „natürlichen“ Sprache zu machen: Die kleinste Artikulationseinheit der oralen Sprache ist mitnichten der „Laut“ (/a/, /u/, …,/m/, …,/k/…), sondern die Silbe. Hier ist also zu lernen: Wir können uns ein Bild von der oralen Sprache nur von ihrer semantisch lesbaren Verschriftung her machen, und da sind Missdeutungen Tür und Tor geöffnet.
Themen:
2.1 Einige „ursprüngliche Bilder“ der chinesischen Schrift: ‚Frau‘, ‚Mann/Mensch‘, ‚Kind‘, ‚Baum‘, …
2.2 Etymologie: Einige aus dem Griechischen und Lateinischen stammende „Fremdwörter“ des Gegenwartsdeutschen
2.3 Morpheme und Sprechsilben
Thema (3) führt in einfacher Form ein von Noam Chomsky (*1926, Begründer der sogenannten „generativen“ Grammatik) in die Linguistik eingeführtes Verfahren der Darstellung der Syntax von Phrasen ein. Weder bei Chomsky noch sonst in der Linguistik ist dieser Formalismus jedoch je logisch interpretiert worden. Dies geschieht hier mit dem Mitteln des vom amerikanischen Philosophen Nelson Goodman (1906-1998) entwickelten Individuenkalküls, der zeigt, wie Teile ein Ganzes bilden können. So gelesen kann die (korrekte) Analyse einer Phrase in ihre Teile in der Tat als das logische Bild der Funktionsweise unserer „natürlichen“ Sprache verstanden werden.
3.1 Phrasen des Gegenwartsdeutschen
3.2 Die Darstellung von Phrasen in einem Konstitutionssystem (einer ‚generativen‘ Grammatik)
3.3 Die logische Deutung dieses Darstellungssystems
Literaturhinweise zu den einzelnen Themen werden bei der Einzelbesprechung gegeben.
Die „formalen Sprachen“ durchziehen weite Bereiche der heutigen Welt; sie bilden den Raum, in dem sich (bisher) Mensch und Computer treffen.
Jeder kennt die formale Sprache der „Rechenausdrücke“, wie sie in mathematischen Gleichungen auftreten. Mit solchen Gleichungen beschreibt man etwa in der Physik Naturphänomene, und die mathematische („formale“) Behandlung der Gleichungen führt zu Erkenntnissen über die Natur. In den letzten 150 Jahren hat sich der Bereich der formalen Sprachen in mehreren revolutionären Schritten erweitert, hauptsächlich durch das Aufkommen von „Logik-Sprachen“ und von Programmiersprachen. Damit kann man jenseits der Naturbeschreibung für praktisch alle Bereiche des Lebens formale Modelle entwickeln und durch deren rechnerische Analyse (z.T. mit massivem Einsatz von Computern) zu Erkenntnissen gelangen, die anders nicht erreichbar sind.
Update (23.10.13):
Im Verlauf der Präsentation der Themen am 15. Oktober wurde klar, dass ein modifiziertes Format besser wäre.
Daher werden die vier Sitzungen des Teils II wie folgt strukturiert: Es gibt erst ein einführendes Referat (ca. 25 Minuten) zur Vermittlung des historischen Hintergrunds und der wesentlichen Fakten. Dann folgt ein kürzeres „Impulsreferat“ (etwa 10 Minuten) als Einstieg in das vorgeschlagene (oder ein abgeändertes) Diskussionsthema. Jeder der beiden Teile kann durch ein oder zwei Teilnehmer bestritten werden (für die Diskussionsthemen gehört dann auch die kurze Protokollierung der Diskussion dazu). Der Dozent steht bei allen Themen als Mit-Vortragender oder Ersatzmann zur Verfügung.
Um einem Brauch des Leonardo-Programms zu folgen (der mir bisher nicht bekannt war), wollen wir die Teilnahme am Seminar daran knüpfen, dass auch ein Beitrag geleistet wird.
Es folgt das modifizierte Programm, jeweils mit ein oder zwei Beispielquellen. Zur Orientierung sollte man auch Lexika wie Wikipedia heranziehen. Weitere Quellen werden noch bei Bedarf genannt. Die genannten Quellen werden als pdf Dateien oder „Scans“ bereitgestellt.
07.01.2014
1. Entstehung und Gestalt formaler Sprachen
Grammatiken und formale Sprachen (u.a. Programmiersprachen, Logik-Sprachen)
Quellen:
N. Chomsky: Three models for the description of language. In: IRE Transactions on Information Theory. Vol.2, 1956, S. 113–124.
Heutige Darstellung z.B. in A.Asteroth, C. Baier: Theoretische Informatik, Pearson, München 2002, S. 193-202.
Diskussion: Wo sehen wir Formalisierung im Alltag und in der Wissenschaft? Wann ist sie nützlich, wann störend?
Beispielquelle: K.E. Iverson, Notation as a tool of thought (Turing Award Lecture), Communications of the ACM 23 (1980), 444-465 (nur Abschnitt 1).
14.01.2014
2. Algorithmen als „Akteure“ in formalen Sprachen
Was sind Algorithmen? Turing und seine Maschinen. Komplexität.
Quellen:
R. McNaughton, Elementary Computability, Formal Languages, and Automata, Prentice-Hall, Englewood Cliffs, N.J. 1982 [Chapter 1: The Concept of Algorithm, pp. 1-22]
A.Turing: On computable numbers, with an application to the Entscheidungsproblem, Proc. London Math. Soc. 42 (1936), pp. 230–65.
Diskussion: Gibt es maschinelle Intelligenz?
Beispielquellen:
A. Turing, Computing Machinery and Intelligence, Mind 49 (1950), S. 433-460
J. Weizenbaum, Computer Power and Human Reason, W.H. Freeman London 1976.
21.01.2014
3. Grenzen der formalen Methode
Was bedeutet „Unentscheidbarkeit“? Wo liegen Grenzen formaler Beweissysteme?
Quellen:
H.D. Ebbinghaus, J. Flum, W. Thomas, Einführung in die mathematische Logik, 5. Aufl., Springer-Verlag, Heidelberg 2007 [Kapitel 10]
T. Franzen: Gödel’s Theorem. An incomplete guide to its use and abuse. Wellesley, Massachusetts 2005.
Diskussion: Grenzen der Algorithmik und der formalen Beweisbarkeit = Grenzen der Erkenntnis?
Quellen nach Bedarf, zum Beispiel Gödels Gottesbeweis
28.01.2014
4. Zur Verwendung formaler Sprachen
Interpretation formaler Sprachen und Problemfälle der Formalisierung
Quellen:
J.R. Büchi, Finite Automata, Their Algebras and Grammars, Springer-Verlag 1989, Chapter 1
Drei Dokumentationen über Fehlfunktionen von Software
Diskussion: Sind formale Sprachen (und ihre algorithmische Verarbeitung) wertfrei, Segen oder Fluch?
Quellen aus Zeitschriften und Tagespresse